von Dr. Klas Boivie, Senior Research Scientist bei SINTEF Manufacturing AS, 06.09.2023
Die norwegische AM-Industrie schafft zahlreiche Innovationen. Die heimischen Energie-, Öl- und Gasunternehmen spielen dabei eine große Rolle
AM-Technologien wurden in Norwegen auf Initiative der Norwegischen Universität für Wissenschaft und Technologie (NTNU) und des Forschungsinstituts SINTEF in den späten 1980er-Jahren eingeführt. Zu den frühen Aktivitäten gehörte die Entwicklung von innovativen Verfahren und von Anwendungen für das Rapid Prototyping (RP). Als sich die RP-Technologie in den 1990er-Jahren in der norwegischen Industrie durchsetzte, wurde ein Großteil der ursprünglichen Aktivitäten zur Unterstützung dieses Anwendungsbereichs obsolet, und die verbleibenden Aktivitäten im Bereich AM konzentrierten sich auf die Entwicklung des Metalldruckverfahrens (MPP), einer neuartigen Prozesslösung auf der Grundlage der xerografischen Abscheidung von Metallpulver. Die Osloer Hochschule für Architektur und Design (AHO) hat seit Mitte der 1990er-Jahre kontinuierliche Aktivitäten zur Ausbildung im Bereich Design für AM und zur praktischen Nutzung von AM für den Modellbau und die Realisierung von Entwürfen durchgeführt.
Da sich die Möglichkeiten der AM-Technologie in den 2000er-Jahren so weit entwickelt hatten, dass die Herstellung von Endprodukten möglich war, leiteten mehrere Universitäten und Forschungseinrichtungen im ganzen Land neue Aktivitäten zur Unterstützung der Einführung und Nutzung dieser Möglichkeiten in der norwegischen Industrie ein. Im Jahr 2015 wurde die Frage nach den Nutzungsmöglichkeiten von AM für die Herstellung von Produkten und Ersatzteilen für die Offshore-Energie- und maritime Industrie von NORSOK aufgeworfen – der Organisation, die für die Entwicklung von Normen für Anlagen auf dem norwegischen Schelf zuständig ist. Dadurch wurde das Interesse an AM und additiven Aktivitäten in den wichtigsten Industriesektoren in Norwegen auf ein neues Level gehoben.
Wichtigste Anwendungsfelder
Als Land mit einer ausgedehnten Küstenlinie und großen Öl- und Gasvorkommen im norwegischen Schelf ist es kaum verwunderlich, dass die maritimen Energie-, Öl- und Gasunternehmen in der norwegischen Industrie von grundlegender Bedeutung sind – sowohl als Anwender als auch als Kunden für norwegische AM-Dienstleister. Anwendungen in diesen Bereichen erfordern in der Regel eine Qualifizierung und Zertifizierung der Produkte. Das in Norwegen ansässige, weltweit tätige Qualitätssicherungs- und Risikomanagementunternehmen DNV hat 2018 seine erste Klassifizierungsrichtlinie für die Verwendung von AM herausgebracht. Sein Portfolio an AM-Richtlinien und -Normen ist seither weiter gewachsen.
Der norwegische Energieriese Equinor hat das Potenzial von AM für die Herstellung von Ersatzteilen, die Reparatur und die Fertigung von Endprodukten eingehend untersucht. Mit seinen umfangreichen Produktionsanlagen ist Equinor stark vom Zugang zu Ersatzteilen abhängig und hält derzeit einen Bestand im Wert von rund 2,5 Mrd. Euro. Der Unterhalt der physischen Lager und Bestände ist sehr kostspielig, und Equinor hat sich das ehrgeizige Ziel gesetzt, die physischen Bestände innerhalb von fünf Jahren um 25 Prozent und innerhalb von zehn Jahren um 50 Prozent zu reduzieren. Der Plan sieht vor, dass der verringerte Bestand in erster Linie durch eine On-Demand-Produktion vor Ort ersetzt werden soll, die durch AM-Technologie ermöglicht wird. Daneben hat Equinor festgestellt, dass die Möglichkeit, Anlagen durch AM zu reparieren oder veraltete Ersatzteile durch AM zu produzieren, die Lebensdauer größerer Einheiten innerhalb der technischen Systeme verlängern kann. Dadurch wird die Notwendigkeit, diese Einheiten zu ersetzen, vermieden – und somit werden der Investitionsbedarf und die Umweltauswirkungen, die mit dem Ersatz großer Teile der bestehenden technischen Anlagen verbunden wäre, verringert.
Innovationsfelder
Eine wesentliche Eigenschaft von AM ist es, innovative Produktdesigns zu ermöglichen – und das ist auch in Norwegen nicht anders. Wichtige Bereiche von AM-Innovation in Norwegen sind Prozesstechnologie und dezentrale Fertigungslösungen. Norsk Titanium (NTi) hat eine eigene Version des DED-Arc-Verfahrens mit der Bezeichnung „Rapid Plasma Deposition“ (RPD) für die Herstellung von endkonturnahen Teilen aus Titan in großem Maßstab entwickelt. Das Unternehmen konzentriert sich auf die Herstellung von Teilen und hat vor allem in der Luft- und Raumfahrtindustrie Kunden gewonnen. Die Hauptproduktionsstätte des Unternehmens befindet sich in Plattsburg, NY, USA, während die Technologieentwicklung und die Produktion der AM-Maschinen in Norwegen bleiben.
Visitech, ein Anbieter von DLP-basierten Light Engines, die u. a. für die Bottich-Photopolymerisation (VPP) verwendet werden, hat eine „near IR-light-driven DPL unit“ entwickelt, die für das Pulverbettschmelzen von Polymermaterialien (PBF/P) verwendet werden soll. Dieses „Direct Image Sintering“ (DIS) genannte Verfahren verspricht eine sofortige Belichtung mit hoher Präzision und Auflösung und wurde im November 2022 eingeführt. Das Bestreben, eine On-Demand-Produktion vor Ort zu ermöglichen, hat mehrere Innovationen unterstützt.
Von Fieldmade stammt die „Nomad“-Serie voll integrierter, einsatzfähiger Produktionsmodule für Polymer-, Verbund- und Metallwerkstoffe. Diese „Mikrofabrik“-Module sind leicht zu transportieren, können praktisch überall aufgestellt werden und sind innerhalb einer Stunde nach Ankunft am Zielort produktionsbereit. Nomad-Module haben umfangreiche Tests in der Praxis durchlaufen und bereits Tausende von Teilen für zivile und militärische Anwendungen hergestellt. Fertigungslösungen vor Ort erfordern digitale Lösungen für den Modellbestand, die Verwaltung von Aufträgen, die Verwaltung von geistigen Eigentumsrechten, die Dokumentation und andere unterstützende Funktionen. Fieldnode ist ein Spin-off von Fieldmade und hat eine Lösung für die digitale Inventarisierung in Zusammenarbeit mit führenden Unternehmen und wichtigen Interessengruppen aus dem Energiesektor erarbeitet, darunter Equinor, ConocoPhillips, Shell, TotalEnergies und andere.
Parallel dazu hat die amerikanisch-norwegische Ivaldi Group Lösungen für die AM-gestützte dezentrale Fertigung für den maritimen, den Offshore- und den Bergbausektor entwickelt. Die Wilhelmsen Group mit ihren maritimen und logistischen Dienstleistungen war hier ein wichtiger Partner und Vorreiter. Da die physischen Lagerbestände durch digitale Lieferketten und eine Produktion vor Ort ersetzt werden, wird der Vorrat an physischen Ersatzteilen überflüssig. Um Abfälle zu reduzieren und eine lokale Versorgung mit Metallpulver als Ausgangsmaterial für Metall-AM-Prozesse zu ermöglichen, hat sich F3nice, ein ursprünglich italienisches Unternehmen, in Norwegen niedergelassen und entwickelt mit Unterstützung von Interessenvertretern aus der norwegischen Energiewirtschaft praktische Lösungen für dieses Problem.
Unterstützung durch den Staat
Während die norwegische AM bisher nicht von einem staatlich unterstützten strategischen Programm zur Förderung des Wissens und der Übernahme der AM-Technologie profitiert hat, gab und gibt es eine Reihe von Initiativen, die den Wissensaufbau unterstützen und Unternehmen regional helfen, AM zu adaptieren. Diese werden häufig durch eine Kombination aus staatlichen und lokalen Fördereinrichtungen in Zusammenarbeit mit industriellen Geldgebern finanziert. Die norwegische Gesellschaft für industrielle Entwicklung hat in Zusammenarbeit mit dem norwegischen Forschungsrat und Innovation Norway ein Programm zur Einrichtung nationaler sogenannter Katapult-Zentren zur Innovationsförderung in Bereichen ins Leben gerufen, die als sehr wichtig für die Zukunft der norwegischen Industrie angesehen werden.
Zwar ist keines der derzeit fünf bewilligten Zentren speziell auf AM ausgerichtet, aber drei von ihnen, nämlich Manufacturing Technology, New Materials und Ocean Innovation, haben AM in ihr Dienstleistungsangebot aufgenommen. Im Januar 2023 wurde in Hammerfest an der arktischen Küste Norwegens ein neues AM-Zentrum eröffnet. AM North AS wird von Pro Barents, der regionalen Gesellschaft für Innovation und Industrieentwicklung, und der lokalen Industrie unterstützt. Das Ziel ist zunächst die Herstellung von Ersatzteilen für die Erdölindustrie, aber es wird angestrebt, auch den Bedarf der Marikultur-, Fischerei-, Gesundheits- und anderer lokaler Industrien zu decken. Es gibt weitreichende Pläne zur Einrichtung eines ähnlichen Zentrums mit ähnlicher partnerschaftlicher Unterstützung in Südnorwegen.
Die Entwicklung von AM in Norwegen hängt von der Entwicklung von Kooperationen und Partnerschaften ab, die die verschiedenen Bausteine für ein komplettes Ökosystem für AM in Norwegen zusammentragen. AM Energy, ein internationales Netzwerk zur Beschleunigung der Einführung von AM in der Energiewirtschaft, wurde von einer norwegischen Initiative gegründet und wird von DNV koordiniert. In dem Bestreben, alle Interessengruppen zusammenzubringen, um die Entwicklung eines nationalen Ökosystems für AM in Norwegen zu fördern, wurde 2022 der norwegische AM-Cluster (Norwegian AM) gegründet. Der AM-Cluster ist derzeit eine wachsende und aktive Gemeinschaft, die unter anderem jährlich eine nationale AM-Konferenz organisiert.
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