Kolumne Schraeg gedacht / von Thomas Masuch — 08.09.2022
In einer Stadt im Süden Frankreichs war ich an einem frühen Nachmittag zum Interview verabredet, doch zum vereinbarten Zeitpunkt erschien niemand. Ich wartete, schrieb eine Nachricht und war schon im Begriff zu gehen, als meine Verabredung mehr als eine halbe Stunde später recht entspannt um die Ecke bog. "Entschuldige, aber ich war zum Mittagessen verabredet, und wir sind in Frankreich, da kann das schon mal länger dauern."
Die Nonchalance der Begründung verriet mir, welchen Stellenwert in Frankreich ein gutes Beisammensein zum Mittagessen hat. Überhaupt scheint in Frankreich der Gastronomie als soziale Begegnungs- und Genussstätte eine deutlich höhere Bedeutung zuzukommen als beispielsweise in Deutschland. Redewendungen wie »Leben wie Gott in Frankreich« entstehen ja nicht ohne Grund. Außerdem wurde 2010 die Cuisine Française von der Unesco als immaterielles Weltkulturerbe ausgezeichnet. Dieses Erbe umfasst Spitzenköche wie Paul Bocuse oder einen sehr freundlichen und kompetenten Service, den man in Restaurants oder Bäckereien im gesamten Land erlebt und der beispielsweise in Deutschland nicht unbedingt zum allgemeinen Standard gehört.
Ein weiterer Unterschied, der ins Auge fällt, wenn man von Deutschland aus die Grenze nach Frankreich überquert: Die Autos auf den Straßen erscheinen durchweg preisgünstiger und (hin und wieder) verbeulter. Als Hobbysoziologe könnte man mutmaßen, dass das beim Autokauf eingesparte Geld ohne große Umwege in die Gastronomie wandert.
Einen kleinen Wermutstropfen hat der französische Hang zur genussvollen Nahrungsaufnahme im sozialen Umfeld allerdings doch – so jedenfalls mein Eindruck nach einer vierwöchigen Tour durchs Land: In den Zentren größerer Städte wie Toulouse und Lyon bieten die Restauranttische kaum mehr Fläche als die Stühle und stehen so eng beieinander, dass man beim Essen darauf achten muss, nicht versehentlich das Besteck vom Nachbartisch in den Fingern zu halten. Wobei das positiv betrachtet vielleicht auch eine Form des sozialen Miteinanders sein kann.
Natürlich hat auch der 3D-Druck vor Frankreichs Küche nicht haltgemacht – allerdings weniger um durch dezentrale Fertigung das Platzproblem in den Restaurants zu lösen, sondern zum Beispiel um nette Verzierungen auf Geburtstagstorten zu zaubern (Pâtisserie Numérique).
Eine echte Bedrohung für die Haute oder Nouvelle Cuisine besteht da sicherlich noch nicht, und man muss bestimmt nicht befürchten, dass bald ein Boeuf Bourguignon, ein Coq au Vin oder eine Crème brûlée zwischen der X-, der Y- und der Z-Achse entstehen. Aber man weiß ja nie, vielleicht gibt es in gut zwei Monaten dazu schon Lösungen auf der Formnext zu sehen.
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